Europas Autoindustrie setzt auf Nostalgie, um die Zukunft zu gestalten

Nov 10, 2024 at 7:02 AM
Die elektrische Euphorie ist abgekühlt und die Konkurrenz aus Asien und Amerika mächtig. Deshalb besinnen sich die Europäer auf dem Weg in die Zukunft auf ihre Vergangenheit und kramen alte Namen hervor. Oft haben die mit dem Original aber nicht mehr viel mehr gemeinsam als den Namen.

Retro-Modelle sollen Vertrauen und Begeisterung wecken

Rückgriff auf glorreiche Vergangenheit

Insbesondere die europäischen Autohersteller wagen derzeit den Rückgriff auf ihre glorreiche Vergangenheit, um den Weg in die Zukunft zu ebnen. Fiat lässt die "Tolle Kiste" als Grande Panda wieder aufleben, VW macht den Bulli als ID.Buzz zum Van der Generation E und Renault hat bei seiner selbst ausgerufenen "Renaultlution" gar eine ganze Retro-Welle losgetreten. Dem gerade laut bejubelten R5 lassen die Franzosen im nächsten Jahr einen R4 folgen und kündigen für 2026 im Geist des Originals ein Comeback des Twingo an.Auch BMW, sonst eigentlich fest der Zukunft zugewandt, blickt bei der "Neuen Klasse" auf ein altes Auto. Denn zumindest die ersten Studien für die Limousine, die binnen eines guten Jahres zum elektrischen Erbe des Dreiers werden soll, erinnern verdächtig an den 2002, der vielen als die Mutter der sprichwörtlichen Freude am Fahren gilt.

Unterscheidung von der asiatischen Konkurrenz

Designchef Damagoj Dukec sieht in diesem Rückgriff auf die Vergangenheit den Versuch, sich von den vielen Newcomern aus dem Fernen Osten abzugrenzen. Schließlich kommen gerade aus China fast im Quartalsrhythmus neue Marken, die mit immer neuen Elektromodellen auf sich aufmerksam machen. "Aber was uns von all diesen Marken unterscheidet, das ist unsere Heritage, unsere Tradition, unsere Geschichte", sagt Dukec.

Vertrauen und Begeisterung wecken

Der zweite Grund für den Hype um die Wiedergänger ist die müde Stimmungslage bei den Kunden: Viele Verbraucher seien angesichts des Umbruchs in der Antriebswelt nach wie vor sehr verunsichert. "Da können alte, bewährte und beliebte Modelle ein gewisses Vertrauen schaffen und ihnen ein paar Sorgen nehmen", erklärt Designchef Amko Leenarts.Und ein paar positive Erinnerungen sind sicher auch kein Schaden, wenn man die Stimmung heben will. Sogar Hyundai, mit den Ioniq-Modellen unbestritten weit vorn auf der Electric Avenue, hat sich für den Ioniq 5 vom legendären Pony inspirieren lassen.

Herausforderungen für die Designer

Für die Designer ist der Rückgriff auf Retro-Modelle jedoch ein zweischneidiges Schwert. Einerseits freuen sie sich über die Chance, eine Legende wiederzubeleben, sagt Renault-Designchef Laurens van den Acker. "Nicht umsonst haben sie für den R5 pfiffige Petitessen wie den Baguette-Halter oder einen Getriebewählhebel in den Farben der Tricolore entworfen und sie bei den Buchhaltern sogar durchgesetzt."Doch zugleich steige mit solchen Projekten auch der Druck, räumt van den Acker ein. "So eine Chance hat man nur einmal, die verbockt man besser nicht."Design-Professor Paolo Tumminelli sieht den Rückgriff auf die Vergangenheit jedoch kritisch. Er wirft den Designern vor, "unwillig, überzeugende Konzepte für ein zeitgenössisches, nachhaltiges Automobil zu formulieren" zu sein. Stattdessen "verkleidet die europäische Industrie ihre neueste Technologie in ästhetischen Motiven der Vergangenheit."Tumminelli räumt zwar ein, dass Retro durchaus funktionieren kann, wie die Wiederbelebung von Ikonen wie Mini, Beetle und Cinquecento in den 1990ern gezeigt habe. Die aktuellen Retro-Modelle wie R5, Grande Panda und die neue Neue Klasse stellten jedoch eher eine "theoretische Abstraktion ihrer Vorgänger" dar. "Diese Transformation ergibt im gegenwärtigen sozialen Kontext kaum Sinn."Stattdessen ziele diese "New Retro" auf den wankelmütigen Geschmack von Millennials und Gen-Zs. Damit werde das Auto zu einer Kreuzung aus Vintage und Restomod, sagt Tumminelli und fasst es noch drastischer zusammen: "Das Auto wird Fast Fashion oder auch: Einwegprodukt."