In einer Gesellschaft, die oft von Stereotypen geprägt ist, werden Einzelkinder häufig als verwöhnt und egoistisch angesehen. Doch wie stimmen diese Vorstellungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überein? Diese Frage beleuchtet Anna Hofer, eine erfahren Psychologin und Mutter eines Einzelkindes, in einem umfassenden Interview. Seit zehn Jahren berät sie Eltern und entlarvt dabei viele verbreitete Missverständnisse über Einzelkinder. Ihre Einsichten bieten einen neuen Blick auf die Realität dieser Familienkonstellation.
Anna Hofer, Jahrgang 1979, begleitet seit einer Dekade Eltern durch ihre Herausforderungen in der psychologischen Beratung. Als Einzelkind aufgewachsen und selbst Mutter eines Einzelkindes, kennt sie die vielfältigen Fragen und Zweifel, die Eltern beschäftigen. Die Geschichte der Vorurteile gegen Einzelkinder reicht weit zurück, beginnend mit einer subjektiven Studie aus dem Jahr 1896, die diese Kinder als „seltsam“ bezeichnete. Der Einfluss des Nationalsozialismus verstärkte diese Meinung weiter, indem er das Idealbild der Familie festlegte. Erst in den 1980er Jahren konnten Forscherinnen wie Toni Falbo und Judith Blake nachweisen, dass es zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern keine signifikanten Unterschiede gibt. Eine aktuelle Studie von Michael Dufner an der Universität Leipzig bestätigte 2015, dass Narzissmus bei Einzelkindern nicht häufiger auftritt. Stattdessen zeigten die Studien, dass Einzelkinder oft diplomatisch und kompromissbereit sind, da sie den Wert von Freundschaft besonders schätzen.
Auch wenn die Gesellschaft oft davon ausgeht, dass zwei Kinder die Norm darstellen, bilden Einkindfamilien in Deutschland die zweitgrößte Gruppe. Eltern von Einzelkindern haben oft mehr Zeit und finanzielle Ressourcen für ihr Kind, was sich positiv auf dessen Entwicklung auswirkt. Es ist entscheidend, dass diese Kinder früh in Kontakt mit anderen Kindern kommen, sei es durch regelmäßige Treffen oder im Kindergarten. So lernen sie soziale Fähigkeiten und Frustrationstoleranz, ohne unbedingt Geschwister zu benötigen. Ein offenes Haus, in dem Besuche willkommen sind, kann ebenfalls dazu beitragen, dass Einzelkinder gesunde soziale Beziehungen aufbauen.
Von einem journalistischen Standpunkt aus lässt sich sagen, dass dies ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung ist. Es zeigt, dass die Vorstellung von Einzelkindern als verwöhnten Prinzen und Prinzessinnen weitgehend unbegründet ist. Vielmehr sollte die Gesellschaft die Vielfalt in Familienkonstellationen anerkennen und akzeptieren. Dies hilft nicht nur den Einzelkindern, sondern auch ihren Eltern, die oft unter Druck stehen, ihrem Kind alles geben zu müssen. Indem wir uns von alten Vorurteilen lösen, können wir eine inklusivere und toleranterere Gesellschaft gestalten.